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Rede von Arzu Toker zu Europa & Migration

26 Okt, 2017 | Return|

Die Puls of Europe-Bewegung bringt regelmäßig viele Leute auf die Straße, die für Europa und gegen die nationalen Tendenzen bei AfD, FPÖ & Co. demonstrieren. Auf dem Treffen am 8. Oktober hat Alibri-Autorin Arzu Toker eine Rede gehalten, die wir hier gemäß ihrem Manuskript dokumentieren. (Das Foto stammt freilich nicht von der Kundgebung, sondern wurde vor zwei Jahren bei einer Lesung auf der aufgenommen.)

Europa. Eine Geschichte von Verführung und Entführung. Die Geschichte einer schönen Frau. Wegen ihr bekam dieser Kontinent seinen Namen: Europa.
Ich bin nicht entführt worden. Ich bin freiwillig gekommen. Ich war eine junge Frau, 23 Jahre alt mit Visionen, mit Träumen, die keine Grenze kannten.
Ich bin an in einem Tal an der syrischen Grenze geboren. Dieses Grenzgebiet hat mich, meine Kindheit geprägt. Als meine Großmutter ein junges Mädchen war, gab es dort keine Grenzen. Als ich klein war, sah ich, wie die Vögel die natürliche Grenze, die Berge, überflogen. Auch ich hätte gern gewusst, was es auf der anderen Seite gab. Ich konnte, ich durfte nicht.
Jetzt lebe ich in einem Kontinent, in dem ich weiß und jederzeit erkunden kann, was auf der anderen Seite zu sehen gibt. Immer, wenn ich in diesem unserem Europa in andere Länder fahre, berührt es mich, die ehemaligen Grenzkontrollstationen, diese verlassenen Orte zu sehen. Ich jubele mit meinem 65 Jahren wie ein Kind und kann mich nicht zurückhalten, meinen Mann zu nerven:
Schau mal, schau mal, schau mal! Das war mal eine Grenze, stell dir vor, das war mal ne Grenze! Er tut so, als sei er genervt, aber ich glaube, er fährt extra langsam. Er gönnt mir diesen Genuss, den Moment der Freiheit.
Wir, die Menschen, zählen uns in der Mehrheit zu den intelligenteren Wesen. Wenn ich jedoch bedenke, dass bereits Nietzsche 1895 die Grenzen in Europa in Frage gestellt hat, und wir immer noch für Europa kämpfen müssen, dann packt mich der Zweifel.
Sicher, Europa hat viele Grenzen abgeschafft, innere wie äußere, und Feindschaften überwunden. Sonst stünden Sie alle jetzt nicht auf diesem Platz. Mit ihnen genieße ich diese Errungenschaft:
Ein Europa ohne Grenzen!
Ein Europa in Frieden!
Aber es gibt immer wieder machtbewusste ältere Männer, die den einen oder anderen Grund wissen, warum sie meinen, sagen zu müssen Germany first.
Ich bin glücklich, in Europa zu leben. Ich könnte ununterbrochen nach Holland, Italien, Frankreich in fast alle Länder Europas fahren, nur um mich immer wieder über diese nicht existenten, verlassenen Grenzübergänge zu erfreuen. Ausgenommen Ungarn und Polen. Ich bin unsicher, ob ich willkommen wäre
Und, denk ich an die inneren Grenzen der Menschen in Europa, auch an meine eigenen, so lehren sie mich das Fürchten. Nach den Wahlen schlägt in mir die Unsicherheit, das leise Trippeln der Angst, wie der Herzschlag eines ungeborenen Kindes.
Und ich merke, dass ich doch nicht die gesamte Menschheit liebe; ich werde nie so ‘deutsch’ , so völkisch deutsch, um dem Nationalismus und dem Rassenhass Platz in mir zu geben, wie die, die nun im Bundestag vertreten sind, die Starkdeutschen.
Aber was tun wir? Wir, die ehemaligen Migranten? Die Neudeutschen, was tun wir? Was tun wir für dieses Land? Was tun wir für Europa?
Sicher, es gab damals in den 60ern, als die Migranten, damals noch Gastarbeiter, nach Deutschland kamen, auch Abenteurer, Neugierige darunter . Aber die meisten von uns wanderten aus, weil unser Herkunftsland uns nicht ernähren konnte. Weder geistig noch finanziell.
Hier in Deutschland, mitten in Europa fanden wir ein neues Zuhause. Wir, die Migranten, haben in diesem Land nicht nur „malocht“ oder „aufgebaut“, wie viele es sagen. Nein, wir haben auch sehr viel bekommen.
Was bekamen wir? Frieden, Wohlstand, Hoffnung für uns und für die Zukunft unserer Kinder. Und Rechtssicherheit, das letztere sollten sich insbesondere Erdo?ans Anhänger hinter die Ohren schreiben.
Wofür haben meine ehemaligen Landsleute, diese türkischen Migranten, zu 100.00 Personen demonstriert?
Sie befürworteten die Politik eines Mannes, der
den Kölner Schriftsteller Dogan Akhanli über Wochen in Spanien festhalten ließ
den Journalisten Deniz Yücel, die Übersetzerin Mesale Tolu, Peter Steudtner aus Berlin und weitere 55 Menschen inhaftieren ließ,
und mehr noch:
Sie befürworteten die Politik eines Diktators, der
– den IS und andere islamische Radikale unterstützt,
– Journalisten in den Knast steckt,
– kurdische Städte dem Erdboden gleich bombt,
– Erschossene Kurden, darunter eine Frau, nackt hinter Autos binden und durch die Straßen schleifen lässt.
Meine Landsleute demonstrierten in Köln zu 100.000 für einen Diktator und Mörder. Diese Freiheit haben sie, das ist für sie möglich, weil es in Europa ein wertvolles Gut gibt, das sie genießen: die Rechtssicherheit!
Die Menschen in Europa haben den Frieden nicht geschenkt bekommen. Aus den Kriegen wie der schon dem dreißigjährigen Religionskampf in ihrer Geschichte haben Sie unter tiefen Schmerzen gelernt. Sie, die Europäer, haben in Europa nach zwei Kriegen einen friedlichen Kontinent aufgebaut. Sie in Europa haben mit kleinen Schritten wie Jugendaustausch für Frieden und Offenheit Grundsteine gelegt.
In Europa stehen wir mit Puls of Europa dafür dass es auch so bleibt. Und mehr noch, dass der Frieden im Land den Frieden auf der Welt fördert.
Ich wünschte, viele Migranten würden hier sein. Ich wünschte, sie würden zu 100.000 hier mit uns sein. Sie würden mit uns für Europa, für Frieden und Freundschaft demonstrieren. Die Vielfalt der Menschen, der Küche, der Kunst des bunten Lebens in Europa mit uns feiern.
Vorwärts, habt keine Angst! sagte Macron in seiner Rede, damit Europa stabiler, stärker, solidarischer wird.
Recht hat er.
Europa die Schöne ist ein Mythos, aber Europa heute symbolisiert die Vision künftigen Lebens. Europa lebt die schönste Zeit ihrer Geschichte:Frieden, Freundschaft ohne Grenzen. Und sie kann noch mehr!
Wir dürfen keine Angst vor dem aufkeimenden Rechten, dem dumpfen Nationalismus, Rassismus haben. Ich will nicht und keiner soll überlegen müssen: Wohin? Was nehme ich mit? Was lasse ich hier?
Es wird derzeit viel von Grenzen geredet.
Wenn ich unsicher bin, spiele ich Wörter zählen in Deutsch, denn diese unsere Sprache hat viele davon. Ich zähle gleich oder ähnlich bedeutende Wörter auf und erkenne dabei mein Gefühl. So zum Beispiel
Grenze, Grenze setzen, abgrenzen, begrenzen, umgrenzen, Demarkationslinie, Ende, Grenzlinie, Markstein, Schranke, Sperre, Trennwand, Barriere, Hürde.
Wie fühlt sich das an? Ich fühle mich nicht gut dabei. Es gibt noch sehr, sehr viele Grenzwörter, aber ich will nur noch eine erwähnen: Die Obergrenze von Herrn Seehofer.
Die Herren, die dieses Wort inflationär benutzen, wissen vielleicht nicht einmal, dass es nicht deutschen Ursprungs ist? Grenze ist aus dem Slawischen, dem Polnischen entlehnt.
Grenzen und Nationen sind die böseste Erfindung der Menschheit. Sie trennen, sie entfremden, Grenzen führen zu Feindschaften.
Ich möchte einfach Mensch sein.
Ich wünsche uns eine Welt, in der wir nicht mehr und nicht weniger sind, als einfach nur Mensch. Und ein Land: Europa.
Deshalb zähle ich ein anderes Wort und Sie können gern mitzählen: Gemeinsam, zusammen, gemeinschaftlich, miteinander, vereint, geschlossen, kollektiv, kooperativ, allesamt, Seite an Seite, Hand in Hand, Arm in Arm, in Zusammenarbeit, beieinander. Gemeinsam für Europa! Arm in Arm für Europa! Vereint für Europa!
Das fühlt sich an wie Liebe!

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